der Vikarinnen und Vikare und der Pfarrerinnen und Pfarrer in den ersten Amtsjahren der Württembergischen Landeskirche

2010

zuFLUCHT?!

Willkommen zurück in der Evangelischen Akademie Bad Boll“. Ein sichtlich erfreuter Akademiedirektor Joachim L. Beck begrüßte die 119 Teilnehmenden und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Herbstkonferenz nach den beiden „Auswärtsspielen“ im Kloster Nehresheim (2008) und dem Hohenwart-Forum bei Pforzheim (2009) nun wieder an ihren angestammten Platz zurückgekommen war. Nach den Um- und Neubaumaßnahmen boten die Evangelische Akademie und der herbstkräftige Albtrauf wieder einen passenden Rahmen für die gemeinsame Fortbildung von Vikarinnen und Vikaren, Pfarrerinnen und Pfarrer z.A., die vielfach mit ihren Familien gekommen waren. Ein erfahrenes Team vom Haus der Familie in Göppingen bot parallel zu den einzelnen Veranstaltungen eine Kinderbetreuung an, die mittlerweile kaum mehr wegzudenken ist und es vielen Unständigen erst ermöglicht, an der Herbstkonferenz teilzunehmen.

Bei den Themen der Herbstkonferenz (im Folgenden: „HK“) gibt es eine Vorgabe, an denen sich das Plenum bei der Auswahl in der Regel orientiert: Ein theologisches „Binnenthema“, das einen Aspekt unserer pfarramtlich-theologischen Arbeit und Existenz betrifft, soll abwechseln mit einem anderen Thema, das über den sprichwörtlichen Tellerrand hinausreicht. Für 2010 hatte sich die HK eindeutig ein Thema der zweiten Art gegeben. Unter dem Titel ZUFLUCHT?! ging es um das tägliche Drama an den fernen europäischen Außengrenzen und um den täglichen Überlebenskampf von Menschen mitten unter uns, die eigentlich auf unsere Teller bzw. über unseren Tellerrand schauen und sich nichts mehr wünschen als an unseren Tischen zu sitzen und Chancen auf einen ähnlichen Lebensstandard zu bekommen.

Für viele vielleicht ein altbekanntes Thema; aber bei näherer Betrachtung stellte das achtköpfige Vorbereitungsteam doch Unsicherheit und Unkenntnis fest, was den momentanen Stand der Dinge, die Fakten, die Rechtslage und im besonderen die Welt dieser Menschen angeht, die – haben sie es einmal nach Deutschland geschafft – eigentlich in einer Nebenwelt der geduldeten Existenz abgeschlossen von unserem Alltag leben. Im Warteraum einer Sehnsucht auf ein besseres Leben, die immer schwächer wird, je länger dieser Zustand dauert. Menschen, die Flüchtlinge werden, verlieren ihre Unverwechselbarkeit. Heruntergestuft auf den minderen Status der absoluten Bedürftigkeit hoffen sie auf Aufenthaltsrecht, auf die Duldung ihrer schieren Existenz. Sie suchen Zuflucht und fühlen sich dabei vom Wohlwollen eines Landes und seiner Beamten abhängig. Eine HK unter diesem brisanten Thema sollte einerseits viele Möglichkeiten bieten, Wissens- und Erfahrungslücken zu schließen und sich mit verschiedenen, ja sogar neuen Positionen zu diesem Thema auseinanderzusetzen. Ganz bewusst sollte es aber nicht beim „Reden über“ bleiben:

Wir wollen unsere Augen nicht vor der Realität verschließen. Wir wollen in den nächsten Tagen bewusst hinsehen, aufmerksam hin- und zuhören. Nicht nur über, sondern auch mit Flüchtlingen reden. Ihre Geschichten werden uns verändern. Wir wollen das große Leid an uns heranlassen, den emotionalen Sicherheitsabstand aufgeben, mitfühlen. Das ist die große Chance auf dieser Herbstkonferenz. Wir wollen voneinander und miteinander lernen, gemeinsam essen und feiern. Leben und Zeit teilen. Und wir wollen fragen, was wir tun können; was „unser Teil“ ist. „Unser Teil“ als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. „Unser Teil“ als Hauptamtliche in unserer Kirche. „Unser Teil“ als Christinnen und Christen.“
(Auszug aus der Eröffnungsrede)

Und so sollte es neben altbewährten Programmpunkten wie dem ins Thema einleitenden Eröffnungs-Vortrag, zahlreichen praktischen Workshops und einer abschließenden Podiumsdiskussion auch viel Raum für persönliche Begegnungen mit Menschen geben, die von ihren eigenen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung, zwischen Asylantrag, Duldung und drohender Abschiebung, dem Leben in Durch- und Übergangsunterkünften und ihren Hoffnungen und Träumen erzählen konnten.

Den Eröffnungsvortrag am Montag hielt Elias Bierdel. Er ist Journalist und war bis 2004 Vorsitzender von „Cap Anamur – Deutsche Notärzte e.V.“. Im Juli 2004 brachte er mit dem Hilfsschiff „Cap Anamur“ 37 afrikanische Flüchtlinge in Sizilien an Land, die von der Hilfsorganisation aus Seenot gerettet worden waren. Der italienische Staat klagte ihn daraufhin wegen Beihilfe zu illegaler Einreise an. Der Prozess endete im Oktober 2009 mit einem Freispruch. 2007 gründete Bierdel die Organisation „Borderline-Europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.“ In seinem Vortrag „Festung Europa? Flüchtlingsdramen an Europas Grenzen“ nahm er uns an die Außengrenzen Europas mit, wo immer mehr Menschen auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben den Tod finden. Sie fliehen vor der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch Kriege, Umweltkatastrophen, ungerechte Wirtschafts- und Handelsbedingungen, und sie fliehen vor den gewalttätigen und diskriminierenden gesellschaftlichen Verhältnissen in ihren Herkunftsländern. Die EU-Kommission setzt ebenso wie die meisten nationalen Regierungen ungeachtet tausender Opfer weiterhin vor allem auf die nach militärischen Prinzipien organisierte Abschottung gegen Flüchtlinge und Migranten: Unter Führung der EU-Agentur „Frontex“ ist eine ganze Armee aus Militär, Polizei und Grenzschutz mit modernstem Kriegsgerät damit beschäftigt, Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Als besonders dramatisch beschrieb Bierdel die Lage im Süden der EU, wo Mittelmeer und Atlantik die Grenze zwischen den Kontinenten Europa und Afrika bilden. Tausende Flüchtlinge und Migranten versuchten dort in kleinen, seeuntüchtigen Booten die gefährliche Überfahrt – wie viele von ihnen auf dem Meer ertrinken, verdursten oder Opfer von Gewalttaten werden, kann nur geschätzt werden. Allein die spanischen Behörden gehen davon aus, dass im Jahr 2006 allein vor den Kanaren rund 6000 Menschen gestorben sind. Flüchtlingsorganisationen befürchten, dass jede/r Zweite auf den Routen von Afrika über das offene Meer nach Europa ums Leben kommt. Das wahre Ausmaß dieser Tragödie wird von offizieller Seite verschwiegen, die Bürgerinnen und Bürger Europas sollen nicht erfahren, was sich an den Außengrenzen der EU tatsächlich abspielt. Bierdel stellte abschließend klar, das menschenwürdige Lösungen sich nur finden lassen, wenn wir auch den Mut haben, uns der Realität zu stellen.

Der Dienstagvormittag stand unter der Überschrift „Recht & Politik“. In den Workshops gab es unter anderem Einblicke in Asylrecht und -praxis, politische und theologische Aspekte der Abschiebehaft, und es war Grundlegendes über die Lebensbedingungen von Flüchtlingen und über (frauenspezifische) Fluchtursachen zu erfahren. Während der gesamten Konferenz konnten die Teilnehmenden einen „Asylparcours“ durchlaufen, der die verschiedenen Stationen eines Flüchtlings von der Ankunft in Deutschland bis zur Entscheidung über eine mögliche Aufenthaltsgenehmigung abbildete. Eine Ausstellung der Künstlerin Barbara Kärn-Wilk im Foyer der Akademie mit Motiven zum Konferenzthema lud zum Verweilen und Reflektieren ein. Der Dienstagnachmittag, der sich dem Bereich „Kirche & Gesellschaft“ zuwandte, bot Workshops zum Thema Kirchenasyl, machte auf laufende Kampagnen und Hilfsbemühungen („refugio stuttgart“; „Save me“) für Flüchtlinge aufmerksam und forderte bei einem „Besuch auf der Insel Albatross“ zur Beschäftigung mit unserem eigenen Umgang mit dem Fremden und unseren sog. „Kulturbrillen“ auf.

Nach diesen Einblicken bekamen Geschichten und Schicksale beim „Fest der Begegnung“ am Dienstagabend schließlich konkrete Gesichter. Wir konnten in der angenehmen Atmosphäre des Café Heuss zehn Gäste begrüßen, die aus verschiedenen Ländern bei uns in Deutschland Zuflucht gesucht haben. Zum Teil wurden ihre Anträge auf Asyl bereits angenommen, zum Teil befanden sich ihre Verfahren noch in der Schwebe. Bei aller Ungewissheit, mit der diese Menschen konfrontiert sind, war ihre offene Lebensfreude ansteckend, und es ergaben sich viele intensive und wertvolle Gespräch auf Augenhöhe, bei denen wir uns gegenseitig Anteil gaben an unserem Leben, unserer Kultur und unserem Humor. Bei internationalem Essen, Musik, Tanz und Spielen war viel Gelegenheit zum Austausch und zum Kennen lernen, zum gemeinsamen Lachen und Aneinander-Freuen.

Der Mittwochvormittag führte das Fest der Begegnung und die dort geführten Gespräche auf seine ganz eigene Weise fort. Nach der Methode „Café International“ fanden an zehn Tischen moderierte Gespräche zwischen jeweils einem unserer Gäste und den Teilnehmenden statt. Folgende Fragen wurden dabei u.a. thematisiert: Aus welchen Gegenden und Ländern kommen die Menschen zu uns nach Deutschland? Was bewegt sie dazu, ihr Heimatland zu verlassen? Welche Wege und Umwege bringt ein Asylverfahren mit sich? Wie wurden sie in Deutschland aufgenommen? Welche Unterstützung würden sie sich wünschen/hätten sie sich gewünscht? Einzelne Inhalte und Ergebnisse wurden für die nachfolgenden Gruppen auf den Papiertisch-decken schriftlich festgehalten. Nach einer bestimmten Zeit verließ die Gruppe das „Café“ und ging zu einem weiteren Tisch. Gesprächspartner und ModeratorInnen blieben und führten das Gespräch auch auf der Grundlage des Festgehaltenen fort.

Den traditionellen Abschluss des thematischen Teils der HK bildete am Mittwochnachmittag eine vom Stuttgarter Medienpfarrer Christoph Schweizer souverän geleitete und moderierte Podiumsdiskussion, für die sich trotz vielfacher und intensiver Bemühungen (auch von Seiten der Landeskirche) kein Vertreter der Politik gewinnen ließ. Unter dem Titel „Asylpolitik – quo vadis?“ diskutierten Werner Baumgarten (Landeskirchlicher Beauftragter für Asylarbeit, Stuttgart), Andreas Dihlmann (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Karlsruhe), Pfarrerin Ines Fischer (Mitglied im Vorstand des Flüchtlingsrates Baden-Württemberg, Mengen), Shqipe Idrizi (ehemaliger Flüchtling aus dem Kosovo, Reutlingen) und Hans-Peter Gramlich (Kreisverwaltungsdirektor am Landratsamt Göppingen). Im Wissen darum, dass die Zahl der neu gestellten Asylanträge auch 2010 wieder deutlich zunehmen wird und der damit einhergehenden Verschärfung der Situation und der Aufenthaltsdauer in einigen Gemeinschaftsunterkünften, sehen sich die Mitarbeitenden des Bundesamts mit zunehmenden Aktenbergen konfrontiert. Gleichzeitig werden gesetzliche Regelungen wie z.B. die Residenzpflicht oder die Pflicht, während des Asylverfahrens in Gemeinschaftsunterkünften zu wohnen, zunehmend politisch in Frage gestellt. Auf der Grundlage dieser aktuellen Entwicklungen stellten sich für die Mitglieder des Podiums u.a. folgende Fragen: Wie kann und sollte eine zukunftsfähige Asylpolitik aussehen? Was brauchen Flüchtlinge, um einen wirksamen Schutz zu genießen? Welche politischen Rahmenbedingungen gilt es zu schaffen oder zu erhalten? Welchen Beitrag sollen die württembergische Landeskirche und die Menschen in unseren Kirchengemeinden zugunsten von Flüchtlingen leisten?

Ohne konkretes Gegenüber aus Landes- bzw. Bundespolitik mussten viele Fragen offen bleiben, und auch so mancher Appell von Seiten der Diskutierenden sowie der sich im Laufe des Nachmittags immer aktiver beteiligenden Zuhörerschaft erreichte so nicht die letztlich zuständigen Ohren. Es war etwas von der Ohnmacht zu spüren, mit der sich viele um dieses Thema Bemühte Tag für Tag konfrontiert sehen. Und so fühlte sich so mancher an die Bemerkung von Elias Bierdel erinnert, der in seinem Eröffnungsvortrag die Unzufriedenheit einer wachsenden Zahl von Menschen innerhalb der deutschen und europäischen Bevölkerung mit dem Status quo als wichtigen Beitrag auf dem Weg zu einem Umdenken in der Asyl- und Flüchtlingspolitik einordnete. Dass sich junge württembergische Pfarrerinnen und Pfarrer eingehend und intensiv mit diesem Thema beschäftigen wollten, war für ihn ein deutliches Hoffnungszeichen, und er warb in diesem Zusammenhang für eine Sensibilisierung der Gemeinden. Die vielfältigen Eindrücke und Begegnungen der letzten Tage wurden im abschließenden Abendmahls-Gottesdienst nochmals aufgegriffen. In der gemeinsamen Fürbitte am Tisch des Herrn fand die Herbstkonferenz einen nachdenklichen Ausklang.

Studienassistent Michael Krimmer,
Geschäftsführer der Herbstkonferenz

Auch im Namen des Vorbereitungsteams: Ulrike Döring, Susanne Haag,
Anne Polster, Anne Rahlenbeck, Sarah Reyer, Stefan Schwarzer; Dr. Benjamin Schließer