der Vikarinnen und Vikare und der Pfarrerinnen und Pfarrer in den ersten Amtsjahren der Württembergischen Landeskirche

2008

Nobody is perfect – Leben in der Leistungsgesellschaft

nobody is perfect. Ein Satz, der alle entlastet – und vielleicht dann und wann auch dem Schlendrian Vorschub leistet. Niemand ist perfekt. Zum Glück nicht! Weil niemand perfekt ist, sind wir auf einander angewiesen. Menschen mit unterschiedlichen Begabungen kommen zusammen und bereichern sich gegenseitig.

Nobody is perfect. Doch ist es in unserer Gesellschaft nicht so wie im gleichnamigen Spiel, wer am besten Bescheid weiß, gewinnt? Erfolg hat, wer die anderen von sich und seiner Meinung überzeugen kann und dabei auch die anderen durchschaut. Wer jung, dynamisch und stark ist, hat gute Voraussetzungen in der Leistungsgesellschaft, wer alt, schwach, behindert ist, dagegen nicht. Doch die Grenzen verschwimmen: jung und schwach, behindert und dynamisch, alt und stark. Pfarrer Rainer Schmidt greift diese Thematik in seinem Einführungsvortag „Wer nichts leisten kann, fliegt raus?!“ provokativ auf. Prof. Dr. Axel Olaf Kern und Prof. Dr. Annette Noller nehmen uns am Dienstag hinein in die Diskussion, wie unser Sozialstaat und die Diakonie der Bedürftigkeit von Menschen begegnen. In den Workshops wird das Leben in unterschiedlichen Bereichen der Leistungsgesellschaft unter die Lupe genommen.


Materialien


„Nobody is perfect. Leben in der Leistungsgesellschaft“ Herbstkonferenz 2008

Leistung ist immer mehr Maßstab der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geworden. Leistung ist Kennzeichen und gleichzeitig Motor unserer Gesellschaft. Sie dominiert viele Lebensbereiche. An Leistung und körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sind andere Faktoren gekoppelt wie Anerkennung, Teilhabe am sozialen Leben und das Selbstwertgefühl.

Viele Menschen können in der Leistungsgesellschaft nicht mehr mithalten, weil sie nach einer Weile erschöpft und ausgepowert sind. Andere können von vornherein nicht mithalten, weil sie den Kriterien einer an Leistungsfähgkeit orientierten Gesellschaft nicht entsprechen. Durch Behinderung,  Krankheit oder Alter sind sie beeinträchtigt in ihrer Leistungsfähigkeit im Vergleich mit dem Durchschnitt.

Die Stärke der Schwäche: Leben mit Grenzen

„Wer nichts leisten kann, fliegt raus!?“ Unter diesem provokativen Titel hielt Rainer Schmidt den Eröffnungsvortrag der Konferenz. Er ist Pfarrer und Leistungssportler und seit seiner Geburt körperlich beeinträchtigt. Die Begrenztheit des menschlichen Lebens ist für ihn zu einer Art Lebensthema geworden: Begrenztheit als „Normalfall“ – für alle. Die Grenzen, als von Gott gewollt verstanden, führen die Bedürftigkeit und die Individualität des Menschen radikal vor Augen. Jeder Mensch hat unterschiedliche Grenzen, wie auch jeder Mensch unterschiedliche Stärken hat. Es ist vermessen und gesundheitsschädlich das eigene menschliche Maß zu überschreiten. Deshalb ist es nach Schmidt notwendig Leistungsmaßstäbe zu individualisieren. Auch im schulischen Bereich sei hier Umdenken gefordert. Leistungsmessung nach einer einzigen Norm führe im Schulunterricht zu Frustationserfahrungen.

Leistungslust statt Leistungsdruck

In vielen Arbeitsbereichen hat sich der Leistungsdruck enorm erhöht. Burn-out-Erkrankungen häufen sich. Die Erschöpfungsdepression wird zugespitzt als „Arbeitsunfall der Moderne“ bezeichnet. Esther Kuhn-Luz, Wirtschafts- und Sozialpfarrerin, gab in einem Workshop Einblick in Hintergrund und Folgen dieser Entwicklung. Die Gründe dafür liegen wesentlich darin, dass sich der Arbeitsmarkt und auch ein einzelner Arbeitsplatz globalisiert haben. Erhöhte Mobilität wird von vielen Menschen gefordert. Der Informationsfluss hat sich über das Internet beschleunigt und verbreitert. Das heißt, vieles kann verarbeitet und muss auch  verarbeitet werden. Die Standards in vielen Branchen sind überregional dieselben, so dass der Leistungsfähigkeit des oder der Einzelnen nicht mehr Rechnung getragen wird. Häufig kommt die Angst um den Arbeitsplatzverlust hinzu. Ein anderer Grund ist der hohe Leistungsdruck, den ein Einzelner aufbauen kann. Burn-out kann auch durch Selbstüberforderung entstehen, worauf Dr. Peter Czisch, Leiter von zwei Tageskliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, in der Podiumsdiskusion zum Thema „Leben und Arbeiten in der Leistungsgesellschaft“ hinwies.

Da sich diese Entwicklung auch auf den Erfolg eines Unternehmens auswirkt, muss jetzt auch in den Firmenleitungen eine Antwort auf dieses Problem gefunden werden. Burn-out ist nicht nur das Problem eines Einzelnen, sondern auch der Führungsverantwortlichen, die neue Strukturen der Wertschätzung etablieren müssen, damit Leistungslust über den Leistungsdruck dominiert. Es geht dabei auch um einen Kulturwandel, nämlich um eine Wertschätzung des Imperfekten und Unvollkommenen. Da kommen gerade Menschen mit Behinderungen in den Blick. Sie sind „Autoritäten in der Wertschätzung des Imperfekten“ (A. Lob-Hüdepohl).

Leistung im Pfarramt

Auch die Kirche kann sich diesem Leistungsdenken nicht ganz entziehen. Viele Pfarrerinnen und Pfarrer arbeiten unter enormem Leistungsdruck. Die Zuständigkeiten haben sich in den letzten Jahren im Pfarramt stark erhöht. Es ist schwierig den eigentlichen Aufgaben gerecht zu werden. Dabei muss jeder und jede Einzelne für sich die Prioritäten und die Posterioritäten bestimmen. Aber hier ist auch Kollegialität gefragt. Gerade in dieser Hinsicht hat die Herbstkonferenz als Gelegenheit zum kollegialen Austausch eine große Bedeutung.

Der Kirche kann und muss für ein Menschenbild eintreten, dass die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Menschen bejaht , und zu einem verantwortlichen Umgang mit den Gaben und Grenzen auffordert. Der unvollkommene Mensch ist Ebenbild Gottes. Er bleibt auf die rechtfertigende Gnade angewiesen. Das anzuerkennen und in konkrete Lebens- und Arbeitssituationen einzutragen ist Teil eines „Realismus der Barmherzigkeit“ (Gunda Schneider-Flume).

Ein Bericht von Anne Rahlenbeck.